Die Freude in Rom und Paris war groß, als Olaf Scholz letztes Jahr in das Kanzleramt eingezogen ist. Anders als die Union stellte er sich im Wahlkampf nicht gegen eine Lockerung der europäischen Schuldenregeln.
Leider scheinen Macron und Draghi mit ihrer Einschätzung recht zu behalten. Deutschland manövriert wie ein führungsloser Tanker durch die europäische Finanzpolitik. Das wird katastrophale Folgen für die Finanzstabilität der EU und damit für die Stabilität unserer gemeinsamen Währung haben!
Die Konjunkturprogramme, die zur Bekämpfung der Corona-Krise verabschiedet wurden, haben die Staatsverschuldung in ganz Europa in die Höhe schnellen lassen. In der Eurozone lag die Staatsverschuldung 2021 im Schnitt bei 100% des Bruttoinlandsprodukts, in vielen Mitgliedstaaten sogar noch darüber. Um auf die wirtschaftlichen Begleiterscheinungen der Corona-Pandemie angemessen reagieren zu können, wurden die europäischen Schuldenregeln (der so genannte Stabilitäts- und Wachstumspakt) in den Jahren 2020 und 2021 vorübergehend ausgesetzt und sollen erst ab 2023 wieder greifen.
Die Europäische Kommission hat in der Zwischenzeit eine Konsultation zu einer möglichen Anpassung des Stabilitäts- und Wachstumspakts gestartet. Das ist auch notwendig. Grundsätzlich gibt es hier durchaus Verbesserungsbedarf. Das Regelwerk umfasst mittlerweile mehr als 100 Seiten, es gibt zahllose Ausnahmen und Spezialregelungen und es stützt sich an vielen Stellen auf Schätzungen statt auf klar beobachtbare Kennziffern. So ist eine sinnvolle und nachvollziehbare Anwendung kaum noch möglich und führt regelmäßig zu Streit über die korrekte Auslegung der Schuldenregeln. Dies macht es der Kommission nicht leicht gegen Defizitsünder vorzugehen und somit blieben Sanktionen bisher aus. Entsprechend stieg die Staatsverschuldung in vielen EU-Mitgliedstaaten selbst in wirtschaftlich guten Zeiten stetig an. Von den Referenzwerten aus den europäischen Verträgen (Staatsverschuldung von maximal 60% des Bruttoinlandsprodukts und eine Neuverschuldung von maximal 3% des Bruttoinlandsprodukts) waren wir in den vergangenen Jahren leider sehr oft entfernt.
Die Lockerung der Schuldenregeln aber als Lösung des Problems zu sehen ist ein großer Fehler. Dabei verkennen Draghi und Macron, dass die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die Italien und Frankreich in den letzten Jahren geplagt haben, nicht auf ein zu enges Korsett aus Europa zurückzuführen sind, sondern auf hausgemachte Probleme. Wichtige Strukturreformen wurden in diesen beiden Mitgliedstaaten über Jahrzehnte verschlafen, was immer mehr an Wettbewerbsfähigkeit gekostet hat. An diesen Problemen würden auch laxere europäische Schuldenregeln rein gar nichts ändern.
Die Lockerungen der europäischen Schuldenregeln sind gerade für schon jetzt hoch verschuldete Länder ein Spiel mit dem Feuer. Das derzeitig hohe Verschuldungsniveau ist nur so lange nachhaltig, wie die Europäische Zentralbank die Zinsen niedrig hält und selbst als Käufer von Staatsanleihen an den Sekundärmärkten agiert. Wenn die EZB aus der ultralockeren Geldpolitik aussteigt, was angesichts des steigenden Inflationsdrucks dringend geboten wäre, werden auch die Refinanzierungskosten vieler Mitgliedstaaten spürbar steigen. Wohin das im schlimmsten Fall führen kann zeigt das Beispiel Griechenland. Diese Erfahrung darf sich keinesfalls wiederholen.
Die Bundesregierung muss endlich aufwachen und mit der Arbeit beginnen! Will Deutschland der Stabilitätsanker der EU bleiben, müssen wir Frankreich und Italien etwas entgegensetzen. Argumente für strenge europäische Schuldenregeln gibt es zu Genüge. Deutschland hat nach der Finanzkrise unter Führung der Union die Staatsverschuldung binnen zehn Jahren um zwanzig Prozentpunkte reduziert. Das zeigt: Hohe Staatsverschuldung ist nicht gottgegeben. Man kann den Trend auch umkehren, wenn man nur will.
Europa braucht ein stark geführtes Deutschland. Seit Monaten schlingern wir ohne Führung durch das aufgewühlte Meer. Der nächste Eisberg ist nicht weit, nur die Ampel scheint ihn nicht sehen zu wollen, oder (was noch fataler wäre) nicht sehen zu können.